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20.06.2024

Ukrainische Fans im Collegium Orientale: „Fußball macht Hoffnung“

Selfie: Mykola Dobra

Die beiden Vizerektoren des Collegium Eichstätt, Mykola Dobra (links) und Markiian-Illia Mykytchyn beim EM-Spiel der Ukraine gegen Rumänien in der Münchner Allianz Arena. Selfie: Mykola Dobra

Eichstätt – Wenn die ukrainische Nationalmannschaft bei der Fußball-Europameisterschaft spielt, wie an diesem Freitag gegen die Slowakei, wird sie auch von einer kleinen Fangemeinde in Eichstätt angefeuert. Besonders die 25 Studierenden des Collegium Orientale (COr), die aus der Ukraine stammen, drücken dem Team in Blau-Gelb die Daumen. Sie sind zuversichtlich, dass der Fußball und die EM-Teilnahme ihrem Land neue Hoffnung schenken können.

Ihre Fußballbegeisterung und auch ihr Können auf dem Spielfeld zeigten die Ukrainer im Collegium Orientale bereits vor der EM. Im Mai gewannen die „CORLeones“, so heißt das Team des Eichstätter Ostkirchenkollegs, das internationale Fußballturnier von Theologiestudenten, den „TheoCup“, in Würzburg. Anfang Juni bildeten sie die Basis für die Mannschaft der Seelsorger der Diözese Eichstätt, die bayerischer Meister wurde. Einige der „CORLeones“ konnten unerwartet auch das erste Spiel ihrer Nationalmannschaft bei der Europameisterschaft im Stadion miterleben. Im Interview sprechen sie über die Bedeutung des Fußballs und der EM-Teilnahme der Ukraine im Zeichen des Krieges. (In Klammer sind die Herkunftsregionen der Interviewten genannt).

Herr Dobra, Sie konnten in letzter Minute noch Karten für das erste EM-Spiel der Ukraine in München ergattern. Wie kam es dazu und wie war die Atmosphäre, die Sie in der Allianz-Arena erlebet haben?

Mykola Dobra, Vizerektor des Collegium Orientale(Transkarpatien): Mein Schwager hat mich einige Tage vor dem Spiel Ukraine gegen Rumänien angerufen, er hätte einige Tickets für das Spiel übrig. Er fragte, ob ich selber oder jemand vom Collegium Interesse daran hätte. Nur eine Nachricht in die Gruppe hat gereicht und es haben sich sofort sechs Kollegiaten gemeldet, dass sie die Tickets nehmen. Trotz der bitteren Niederlage unserer Mannschaft (3:0) hat sich die Fahrt nach München gelohnt. Die besondere Atmosphäre in der Münchener Allianz Arena, das Mitsingen unserer Nationalhymne mit weiteren tausenden Ukrainerinnen und Ukrainern und das ständige und durchaus laute Anfeuern unserer Fußballer sorgten für andauernde Erinnerungen. Meine Stimme war bis zum nächsten Tag weg.

Wie wichtig ist es, dass die Ukraine, trotz der Kriegsituation im eigenen Land, bei der EM mitspielt?

Nazarii Haiovyi(Ternopil): Ich empfinde es ganz positiv, dass unsere Nationalmannschaft, obwohl in unserem Land Krieg herrscht, bei der EM ist. Für mich ist das ein Zeichen für die anderen Länder, dass wir da sind. Wir sind nicht verschwunden.

Mykola Vytivskyi(Lviv): Solche Meisterschaften stehen seit den ersten Olympischen Spielen immer für die Solidarität, Freundschaft und Frieden zwischen verschiedenen Nationen und sollten die Kriege ersetzt haben. Es ist deswegen sogar aktueller jetzt als je davor, dass unser Land da repräsentiert wird, weil die Ukraine sich nach dem Frieden sehnt und für den gerechten Frieden im Europa gerade kämpfen muss.

Die EM ist also eine Chance, dass die EU und die Welt die Ukraine mehr wahrnehmen.

Ivan Havryliak(Lviv): Es hängt zum großen Teil davon ab, welche Ergebnisse die ukrainische Nationalmannschaft auf dem Fußballplatz erzielen kann. Je länger unsere Mannschaft bei dieser Meisterschaft bleibt, desto mehr Möglichkeiten wird sie haben, auf die Ukraine aufmerksam zu machen.

Mykola Vytivskyi: Das ganze Europa und die Welt schauen jetzt der Meisterschaft zu, viele Fußballer und Fans aus unserem Land geben Interviews. Daher ist dieses Ereignis auf jeden Fall eine Plattform und eine „Bühne“, auf der man zu Wort kommen soll und hoffentlich von den anderen wahrgenommen und gehört wird.

Was bedeutet der Fußball, Sport im Allgemeinen, vor allem die EM-Teilnahme für die Menschen in der Ukraine jetzt, wo sie so viel Leid in ihrer Heimat erleben? Hilft es ihnen, für kurze Momente vom Kriegsalltag abzulenken?

Pavlo Vainharten(Transkarpatien): Für die Ukraine ist es wichtig, Europa und der ganzen Welt zu zeigen, dass wir noch leben, dass wir noch die Kraft haben, etwas zu tun. Sport ist ein gutes Mittel, es zu demonstrieren. Ein gutes Beispiel ist der Boxer Oleksandr Usyk, der vor einem Monat gegen Tyson Fury gewonnen hat, und natürlich unsere Nationalmannschaft, die an der EM teilnimmt. Ob es hilft, für einen kurzen Moment während des Spieles vom Kriegsalltag abzuschalten, weiß ich nicht. Vielleicht, wenn unsere Fußballnationalmannschaft gut spielen und gute Resultate zeigen wird, dann könnte es sein.

Vasyl Petryshyn(Ternopil): Fußball und die Teilnahme an der Europameisterschaft sind für die Ukrainer eine Quelle der Hoffnung und des Stolzes. Es gibt ihnen die Möglichkeit, sich für kurze Zeit vom Krieg abzulenken und sich um ihre Nationalmannschaft zu vereinen.

Was hört ihr von Familienangehörigen und Freunden in der Ukraine, wie sie mitten im Krieg auf ihr Team bei der EM schauen und die Spiele verfolgen?

Bohdan Kadlubitskyi(Ternopil): Trotz der schwierigen Situation mit dem Krieg finden die Ukrainerinnen und Ukrainer die Möglichkeit, Fußball zu schauen, auch wenn wegen Angriffen die Stromversorgung oft ausfällt. Wir können gemeinsam Fußball schauen, mit den Bekannten oder mit der Familie, aber es gibt kein Public Viewing. Das geht nicht wegen der häufigen Luftalarme.

Vasyl Petryshyn: Familien und Freunde in der Ukraine versammeln sich oft, um die Spiele gemeinsam zu sehen, auch in geschützten Räumen. Es ist ein Moment der gemeinsamen Freude und der Unterstützung.

Ist der Krieg für euch hier in Eichstätt über tausend Kilometer entfernt von der Ukraine sehr präsent, vor allem durch den Kontakt zur Heimat?

Ivan Havryliak: Für mich persönlich ist der Krieg in der Ukraine auch hier in Eichstätt präsent. Gott sei Dank ist er nicht physisch, sondern nur geistig und emotional hier. Jeden Tag kommuniziere ich mit Verwandten, Freunden und Bekannten. Jeder von ihnen erzählt, wie sich dieser Krieg auf sie ausgewirkt hat. Manche von ihnen verbringen viele Stunden am Tag ohne Strom, ein anderer ist persönlich an der Front, jemand hat sein Zuhause verloren, ein anderer hilft der ukrainischen Armee. Dementsprechend ist hier trotz der Entfernung von über  tausend Kilometern immer noch das Gefühl der Tragödie zu spüren, die dieser Krieg mit sich brachte.

Vasyl Petryshyn: Der Krieg bleibt durch den ständigen Kontakt mit Familie und Freunden in der Ukraine ständig präsent in meinem Leben. Auch aus der Ferne spüre ich große Sorge und den Wunsch, zu helfen.

Was wünscht ihr euch und dem Ukraine-Team bei dieser EM?

Bohdan Kadlubitskyi: Wir wünschen unserer Fußballmannschaft nur gute Ergebnisse bei dieser EM. Ja, das erste Spiel war nicht sehr erfolgreich, aber wir hoffen, dass die nächsten beiden Spiele besser werden. Siege sind für uns wichtig, aber der Frieden in unserem Land ist noch wichtiger.

In der Nationalhymne der Ukraine heißt es sinngemäß „Noch ist die Ukraine nicht gestorben“. Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn die Hymne zu Beginn der Ukraine-Spiele bei der EM gesungen wird?

Pavlo Vainharten: Unsere Nationalhymne beginnt mit den Worten „Noch sind der Ruhm und die Freiheit der Ukraine nicht gestorben“. Diese Worte sind sehr stark, besonders in der heutigen Situation, in der die ukrainischen Soldatinnen und Soldaten jeden Tag für unsere Freiheit kämpfen. Als ich die Nationalhymne der Ukraine im Stadion gesungen habe, hatte ich nur ein Gefühl: „Ich bin stolz, dass ich Ukrainer bin“. Ich glaube, dass jede und jeder in unserem Land etwas Ähnliches gespürt hat.
Vasyl Petryshyn: Wenn die Nationalhymne gespielt wird, fühle ich eine starke emotionale Welle. Es ist ein Moment des Stolzes und der Hoffnung, und ich singe immer mit. Es inspiriert und erinnert an unsere Stärke und Widerstandsfähigkeit.

Gegen die Slowakei muss die Ukraine am diesem Freitag gewinnen, wenn sie weiterkommen will. Wie wird das Spiel ausgehen?

Vasyl Petryshyn: Das Spiel wird spannend sein und ich glaube an unsere Mannschaft. Ich denke, die Ukraine wird mit 2:1 gewinnen und ihre Chancen auf ein Weiterkommen wahren.

Mykola Vytivskyi: Die Slowakei hat sehr gute individuelle Spieler, die sich aber gegen Belgien vor allem als eine Mannschaft mit einem starken Charakter gezeigt haben. Es wird also nicht einfach, aber als Ukrainer hoffe ich natürlich, dass die ukrainische Mannschaft bei diesem Spiel auch so einen Charakter zeigen kann. Ich würde daher auf einen erkämpften Sieg, vielleicht 2:1 oder so, tippen beziehungsweise hoffen.

Vielen Dank!

Die Fragen stellte Geraldo Hoffmann

Die „Golden Boys“ als Hoffnungsträger einer Nation

Dass die Ukraine bei dieser Europameisterschaft mitspielt ist an sich schon ein beachtlicher Erfolg. Seit dem großangelegten russischen Überfall am 24. Februar 2022 ist das Land im Krieg (dazu gibt es derzeit eine Ausstellung im Collegium Orientale). Der Fußballbetrieb ist nach dem Angriff zum Erliegen gekommen. Manche Teams, besonders im Osten des Landes, mussten dauerhaft ihre Heimat verlassen. Viele Vereine kämpfen derzeit um ihre Existenz. Die nationale Premiere Liha hat zwar ihren Betrieb wieder aufgenommen, aber es dürfen kaum Fans in die Stadien. Für die volle Auslastung der Arenen sind die Luftschutzkeller zu klein.

Die Nationalmannschaft der Ukraine hat in einer Gruppe mit England und Titelverteidiger Italien oft überzeugt, die EM-Qualifikation aber erst in den Playoffs geschafft. Zur Vorbereitung auf das Turnier hat sich das Team in Taunusstein in Hessen einquartiert. Spieler, Fans und Verantwortliche haben immer auch den Krieg im Hinterkopf, wie Trainer Serhij Rebrow vor dem Testspiel gegen Deutschland in Nürnberg erzählte: „Früher war das bei uns wie in Deutschland, da war Fußball die Nummer eins. Heute ist es der Krieg. Wir denken in erster Linie an die Verteidiger unseres Landes.“

Trotzt der Niederlage im ersten Spiel der Gruppenphase, die Menschen in der Ukraine, die Fangemeinde im Collegium Orientale sowie fast 6,5 Millionen kriegsgeflüchtete Ukrainerinnen und Ukrainer im Ausland (rund 162.000 davon im Bayern) glauben an ihre Nationalmannschaft. Die „Golden Boys“ vertreten eine besonders talentierte Fußballgeneration, etliche Stammspieler kicken bei den ganz großen Vereinen in Europa. Sie machen dem Land sportlich Hoffnung, auch wenn es im Krieg wichtigere Dinge als Fußball gibt. Durch Erfolge – wenn sie eintreten – kann die Nationalmannschaft ein wenig Freude im Land bereiten. „Und positive Emotionen brauchen die Menschen mehr denn je, je länger der Krieg andauert“, sagte kürzlich der ukrainische Fußballexperte Maksym Krawez der Zeitung „Tagesspiegel“.

Auch wenn für 90 Minuten der Sport, der Zusammenhalt und die Unterstützung für die eigene Fußballmannschaft im Vordergrund stehen, geht es für ukrainische Spieler und Fans bei dieser EM um weit mehr als „nur“ um Fußball oder bloße Ablenkung vom schrecklichen Alltag. Die EM-Teilnahme seiner Mannschaft sei auch als klares politisches Signal zu verstehen, betonte Trainer Rebrow vor dem Spiel gegen Rumänien: „Die Ukraine will ein Teil Europas sein.“ Die Teilnahme an diesem großen Sportereignis, die das Land unter widrigsten Umständen geschafft hat, soll dabei helfen, der Welt zu sagen: „Wir sind nicht verschwunden“, wie Nazarii Haiovyi vom Collegium Orientale im Interview betont. Oder wie es ein anderer Fan formuliert hat: „Die Ukraine existiert weiter und kämpft für die Freiheit.“

Text: Geraldo Hoffmann

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